Die Kultur des neuen Kapitalismus

Richard Sennett
Richard Sennett

Wie der US-amerikanische, in London lehrende Soziologe Richard Sennett in seinem 2006 erschienenen Buch „Die Kultur des neuen Kapitalismus“ eindrucksvoll zeigt, ist es seit den 80er-Jahren als Folge der Unterordnung der Realwirtschaft unter die Mechanismen des Finanzkapitalismus zu tief greifenden Veränderungen in unserer Arbeitswelt gekommen. Bis zum Ende der 70er-Jahre war diese geprägt durch ein Fundament, das aus einer Stabilität ihrer äußeren und inneren Strukturen bestand:

  • Arbeit gebende Firmen waren tendenziell auf eine lange Lebensdauer ausgerichtet.
  • Die Arbeitszeiten waren klar und fair geregelt,
  • die Lohntarife mittelfristig berechenbar.
  • Loyalität und Bindungen zwischen Arbeit gebenden Unternehmen und Arbeitnehmern beruhten weitgehend auf Gegenseitigkeit.
  • Erfahrungswissen und eine „handwerkliche Einstellung“ (Arbeit um ihrer selbst willen „gut“ machen) wurden geschätzt.
  • Arbeits- und Privatleben waren weitgehend getrennte Bereiche.
  • Der Arbeitsplatz wurde als Ort für dauerhafte kollegiale Beziehungen und soziale Kontakte erlebt.
  • Langfristige Anstellungsverhältnisse ermöglichten eine vorhersehbare Lebensplanung.

Mit dem Beginn der 80er Jahre ändert sich das fundamental. Waren Kapitalanleger früher vor allem an langfristigen Gewinnen in Form von Ausschüttung einer Dividende interessiert, so beginnen Investoren im Rahmen des „neuen Kapitalismus“ (auch „Neoliberalismus“) nach Anlagevermögen zu suchen, mit denen sich Kapital schnell vermehren lässt. Ziel ist seitdem, nach einer Investition in ein Unternehmen zügig dessen Aktienkurse hochzutreiben, um mit diesen Kursgewinnen das investierte Kapital zu vermehren. Unternehmen werden von ihren Investoren oftmals dazu gezwungen, so Sennett, „Schaulaufen“ zu veranstalten, also im Unternehmen massive Strukturveränderungen und Personaleinsparungen durchzusetzen, unabhängig davon, ob dies unternehmerisch tatsächlich sinnvoll ist oder nicht. Selbst wenn sie dem Unternehmen schaden, vermitteln derartige Maßnahmen den Finanzmärkten einen guten Eindruck, worauf das passiert, was beabsichtigt ist: Der Kurs des Unternehmens steigt.

 

Als Folge der seit 1980 entfesselten Finanzmärkte beschreibt Sennett für die Arbeitswelt einen vermutlich noch lange nicht abgeschlossenen Prozess der systematischen Destabilisierung. Um die Attraktivität eines Unternehmens als Investitionsobjekt zu erhöhen und damit den Aktienkurs in die Höhe zu treiben, müssen die äußeren und inneren Unternehmensstrukturen permanent durchgerüttelt werden. Restrukturierungen und Entlassungen von Mitarbeitern werden nach dieser Logik zum Selbstzweck, fortwährende Destabilisierung zu einem Qualitätsmerkmal guter Unternehmensführung. Der permanente Umbau von Unternehmen sei, so Sennett, zu einer Mode geworden und habe nicht nur die Privatwirtschaft, sondern inzwischen auch den öffentlichen Sektor infiziert, sofern man nicht als rückständig erscheinen will.

 

Nicht verwunderlich, dass diese Entwicklung zu massiven Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen vieler Menschen geführt hat:

  • Um die Möglichkeiten für künftige Umbauprozesse zu erhalten, werden feste Dauerbeschäftigungen zunehmend durch befristete Verträge, Teilzeittätigkeiten oder Zeit- und Lohnarbeit abgelöst.
  • Der Anteil derer, die nicht nach Tarifen entlohnt werden, steigt seit Jahren.
  • Arbeitsplatzunsicherheit wird zu einem Dauermerkmal moderner Arbeit.
  • Die sozialen Sicherungssysteme erodieren, Deregulierung hat an allen Fronten Vorrang, obwohl eine solche Politik künftige Armut (vor allem im Alter) vorprogrammiert.

 Doch auch die Arbeit selbst bleibt von den negativen Folgen nicht verschont:

  • Kurzlebigkeit und Beschleunigung, Fragmentierung der Arbeitsabläufe und Multitasking werden zunehmend die Kennzeichen moderner Arbeitsplätze.
  • Die Nachfrage nach gut ausgebildeten und erfahrenen Arbeitnehmern sinkt, stattdessen sind Erwerbstätige gefragt, die in der Lage sind, mit neuen Anforderungen „irgendwie“ zurechtzukommen.
  • Aus dem, was einst eine Berufsbiografie war, wird immer mehr eine Abfolge kurzer, sich jeweils nur über einen sehr begrenzten Zeitraum erstreckender Engagements mit jeweils kurzer Anlernzeit.
  • Die Möglichkeit zu kollegialer Bindung und sozialer Zugehörigkeit ist so immer weniger gegeben.
Joachim Bauer
Joachim Bauer

Wie der deutsche Mediziner, Neurobiologe und Psychotherapeut Joachim Bauer in seinem 2013 erschienen Buch „Arbeit“ in Übereinstimmung zu den Erkenntnissen des koreanischen, in Deutschland lehrenden Philosophen Byung-Chul Han zeigt, bleiben die seit den 80er-Jahren eingetretenen Veränderungen nicht ohne Auswirkungen auf die Gesundheit der Beschäftigten. Immer mehr Menschen stehen unter dem Eindruck andauernder Arbeitsplatzunsicherheit. Wer drohende Arbeitslosigkeit fürchtet und die Gefahr der eigenen Nutzlosigkeit vor Augen hat, ist bereit, Opfer zu bringen, auch solche, die auf Dauer mit Einbußen bei der seelischen und/oder der körperlichen Gesundheit bezahlt werden müssen:

  • Arbeiten unter hohem Zeit- und Leistungsdruck
  • hohe berufliche Mobilität einschließlich Pendlertum
  • unbezahlte Überstunden
  • Entsolidarisierung und Vereinzelung am Arbeitsplatz
  • permanente Erreichbarkeit auch außerhalb der Dienstzeit
  • eine ernsthaft bedrohte oder bereits verloren gegangene Trennung von beruflicher und privater Sphäre
  • die Vernachlässigung der körperlichen und seelischen Regenerationsbedürfnisse
  • eine allgemeine Verarmung des Privatlebens.
Byung-Chul Han
Byung-Chul Han

Als markantes Phänomen der „Kultur des neuen Kapitalismus“ beschreibt Byung-Chul Han eine bei vielen Menschen wahrnehmbare Haltung fast unbegrenzter Verausgabungs- und Leistungsbereitschaft. Mit dieser Haltung gehe die Unfähigkeit einher, den Raubbau, der durch die geschilderten neuen Arbeitsverhältnisse an der eigenen Gesundheit verursacht wird, rechtzeitig zu spüren und wahrzunehmen. Stattdessen gehen viele Beschäftigte dazu über, sich mit den überspannten Ansprüchen ihrer Arbeitgeber zu identifizieren, so lange, bis sie im Burn-out enden. Byung-Chul Han vergleicht diese Situation mit einem Zusammenbruch des (psychischen) Immunsystems, also mit einer (psychischen) Unfähigkeit zu erkennen und abzuwehren, was dem eigenen Organismus nicht gut tut. Während die „Disziplinargesellschaft“ früherer Zeiten „Verrückte und Verbrecher“ erzeugt habe, bringe die Leistungsgesellschaft dagegen „Depressive und Versager“ hervor. Der von Burn-out oder Depression betroffene Mensch sei jenes „animal laborans“, das sich selbst ausbeute, und zwar freiwillig, ohne Fremdzwänge. Er sei „Täter und Opfer zugleich“.

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